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2. Fachtagung des Interdisziplinären Mutismus Forum am 25. März 2017 (Andernach)

Tagungsbericht

Gemeinsam Brücken bauen.
Selektiver Mutismus - eine intedisziplinäre Herausforderung

Interdisziplinarität war der Fokus der 2. Tagung des Interdisziplinären Mutismus Forums, die von den fünf Mitgliedern des IMF (Sprachheilzentrum des GZG Meisenheim, Sprachheilzentrum Werscherberg, Sprachtherapeutisches Ambulatorium der TU Dortmund, StillLeben e.V. Hannover und Universitätsmedizin Mainz) in Andernach ausgerichtet wurde. Über Workshops, Kurzvorträge, Präsentationen betroffener Jugendlicher und einem Fachvortrag konnten sich circa 80 interessierte Fachkräfte verschiedenster Disziplinen (Pädagogik, Sprachtherapie/Logopädie, Medizin, Psychotherapie) über aktuelle (Forschungs-)Thematiken informieren und Impulse für die eigene Arbeit mit selektiv mutistischen Kindern und Jugendlichen gewinnen.

Nach der Begrüßung durch Belinda Fuchs (Sprachheilzentrum Meisenheim) und Katja Subellok (TU Dortmund) wurde die Tagung mit drei Kurzvorträgen eröffnet und in das Thema Selektiver Mutismus – eine interdisziplinäre Herausforderung eingeführt. Herausforderungen aus medizinischer Perspektive stellen sich insbesondere für die Identifizierung und differentialdiagnostische Abgrenzung des selektiven Mutismus, wie Anne Läßig (Universitätsmedizin Mainz) erläuterte. Aus therapeutischer Perspektive wurden von Katja Subellok (TU Dortmund) Herausforderungen für die (Therapie-)Forschung benannt, da es derzeit noch an Evidenzen resp. Indikatoren mangelt, welche Therapiemethode für welche Ausprägungsform eines selektiven Mutismus wirksam ist. Daniela Feldmann (StillLeben e.V. Hannover) erläuterte aus pädagogischer Perspektive, wie bedeutsam ein informierter und offener Umgang von Lehrkräften und Erzieher*innen mit schweigenden Kindern für deren Partizipation an sozialen und Bildungsprozessen ist.

Die anschließende Präsentation von acht Jugendlichen des Sprachheilzentrums Gesundheitszentrum Glantal in Meisenheim beeindruckte das Plenum. Unter Moderation ihres Sprachtherapeuten Maik Herrmann stellten sich die Jugendlichen vor und berichteten abwechselnd zum Thema Selektiver Mutismus - wie wir es sehen. Wie umgekehrt mutistische Jugendliche von den Peers wahrgenommen werden, berichtete einer ihrer (nicht mutistischen) Mitschüler. Er habe die schweigenden Jugendlichen zunächst als abweisend empfunden und den Eindruck gehabt, nicht gemocht zu werden. Jetzt seien sie seine Freunde. Er habe nun verstanden, dass alle sprechen wollen, es aber nicht immer können.

Die Präsentation der Jugendlichen regte das Plenum zu einer interessierten Fragerunde an. Es wurde unter anderem sehr deutlich, wie unterstützend und zielführend eine stationäre Langzeitbehandlung und der Austausch mit gleich Betroffenen (wie etwa in den Sprachheilzentren Meisenheim und Werscherberg) sein können. Dies brachte eine 18Jährige, die seit ihrer Kindheit schweigt und die Schule abgebrochen hat, auf den Punkt: „Der Kontakt mit anderen mutistischen Kindern hat mir eine neue Perspektive gegeben.“

Fünf Workshopangebote fokussierten anwendungsbezogene Thematiken rund um Diagnostik, Beratung, Therapie und schulische Förderung bei selektivem Mutismus.

  • Alexandra Kopf (StillLeben e.V. Hannover) stellte ihr Instrumentarium DiFraMut – Diagnostische Fragebögen zum selektiven Mutismus (Kopf, 2016) vor. Hierbei handelt es sich um eine umfassende Sammlung informeller Erhebungsbögen, die in verschiedenen Kontexten (Schule, Elternberatung, Therapie…) und mit unterschiedlichen Zielsetzungen zum Einsatz kommen können. Sie sind immer als Ergänzung zum persönlichen Gespräch und zur Beobachtung gedacht, um den Förderprozess effektiver zu gestalten.
  • Kerstin Bahrfeck und Johanna Höfener (TU Dortmund) gaben Einblicke in die Möglichkeiten der ambulanten Gruppentherapie mit schweigenden und sprechängstlichen Jugendlichen. Über Videobeispiele wurde veranschaulicht, wie Transferleistungen in der Schule (Vorlesen, Referate, sich melden) vorbereitet und spontane Alltagskommunikation geübt werden können.
  • Der Workshop von Birgit Jung und Maik Herrmann (Sprachheilzentrum Meisenheim) informierte über die Schwerpunkte der stationären Mutismustherapie in der eigenen Einrichtung. Anhand eines Fallbeispiels wurden Therapieschritte und insbesondere Transferprozesse in das familiäre Umfeld und die Schule aufgezeigt.
  • Johannes Faust (Sprachheilzentrum Werscherberg) fokussierte den Stellenwert einer systemischen Elternberatung, die als Ergänzung einer Therapie selektiv mutistischer Kinder und Jugendlicher zielführend ist. Er stellte heraus, wie sich über eine Beschäftigung mit dem „gemeinsamen Problem Mutismus“ auch hilfreiche und ressourcenfördernde Dynamiken im familiären System entwickeln können, die sich wiederum förderlich auf die Therapie mit dem Kind auswirken.
  • Schulrechtliche Fragen zu den Themen sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf, Nachteilsausgleich und Schulbegleitung wurden im Seminar von Daniela Feldmann (StillLeben e.V. Hannover) beantwortet. Außerdem wurden förderliche schulische Rahmenbedingungen diskutiert und Hilfestellungen im Umgang mit schweigsamen Kindern gegeben.

Über das Thema Selektiver Mutismus bei mehrsprachigen Kindern berichtete Anja Starke (TU Dortmund) in ihrem abschließenden Fachvortrag. Mehrsprachigkeit ist ein Risikofaktor für selektiven Mutismus. Allerdings konnte Anja Starke (2014) in ihrer Dissertation zeigen, dass der Zweitspracherwerb nicht ausschließlich für die Ausbildung des Schweigens verantwortlich ist. Noch relevanter scheinen Einflussfaktoren wie das Temperament des Kindes (Schüchternheit, Ängstlichkeit) und womöglich auch der kulturelle Adaptionsstil der Familie zu sein.

Das abwechslungsreiche und anregende Tagungsprogramm und der angenehme Veranstaltungsort stießen bei den Teilnehmenden auf durchweg positive Resonanz. Den Veranstalter*innen ist es mit der Tagung gelungen, das Thema Gemeinsam Brücken bauen auch in Richtung der anwesenden Fachkräfte und Betroffenen zu realisieren. Daraus erwächst die Kraft, sich vernetzt im gemeinsamen Anliegen selektiver Mutismus professionell zu engagieren. Stimmen nach Wiederholung einer solchen Fachtagung wurden im Publikum laut, möglichst noch im kommenden Jahr, doch spätestens in zwei Jahren….
Darüber wird das IMF nachdenken. :)

Isabel Grüner (Bissendorf), Anne Övermeyer (Bissendorf) & Katja Subellok (Dortmund)



Programm:

10:00 - 10:15 Begrüßung und IMF-Vorstellung
Katja Subellok (Dortmund) und Belinda Fuchs (Meisenheim)
10:15 - 11:15 Kurzvorträge: Selektiver Mutismus interdisziplinär
  • Medizinische Perspektive: Mutismus identifizieren und differentialdiagnostisch abgrenzen
    Anne Läßig (Mainz)
  • Therapeutische Perspektive: Mutismus (erfolgreich) behandeln
    Katja Subellok (Dortmund)
  • Pädagogische Perspektive: Selektiver Mutismus und Partizipation an Bildungsprozessen
    Daniela Feldmann (Oldenburg)
11:15 - 11:45 Frühstückspause und Infostände
11:45 - 13:00 Seminarphase 1 (vier Seminare)
13:00 - 14:00 Mittagessen und Infostände
14:00 - 14:30 Fachvortrag:
Selektiver Mutismus bei mehrsprachigen Kindern
Anja Starke (Dortmund)
14:40 - 15:55 Seminarphase 2 (vier Seminare)
15:55 - 16:20 Kaffeepause und Infostände
16:20 - 17:00 Abschlussveranstaltung: Einblicke und Ausblicke
Katja Subellok (Dortmund) und Belinda Fuchs (Meisenheim)

Veranstalter:

Rhein-Mosel-Akademie (Institut für Fach- und Führungskräfte im Gesundheits- und Sozialwesen)
Vulkanstraße 58
56626 Andernach
Zielgruppe: ÄrztInnen, NeurologInnen, TherapeutInnen, LehrerInnen, ErzieherInnen, Studierende, Betroffene und Angehörige
(Zertifizierte Fortbildung inkl. 6 Fortbildungspunkte)
Kosten:
(inkl. Verpflegung)
Vollzahler 110 €, Frühbucher 95 € (bis zum 06.01.2017), ermäßigt 50 €
Anmeldung: Über das Anmeldeformular der Rhein-Mosel-Akademie
Weitere Informationen zur Veranstaltung finden Sie außerdem auf der Veranstaltungsseite der Akademie.
Ansprechpartner: Anne Läßig (Anne.Laessig@unimedizin-mainz.de)
Belinda Fuchs (b.fuchs@gzg.landeskrankenhaus.de)

Seminarangebote

  • Familiensystemische Aspekte in der Elternberatung und Therapie selektiv mutistischer Kinder und Jugendlicher
    Johannes Faust (Bissendorf/Osnabrück)
  • „Wenn der Alltag zum Hindernis wird“ – Erfahrungen mit der Sekundärsymptomatik von Kindern und Jugendlichen im stationären Setting
    Birgit Jung, Maik Herrmann und NN (Meisenheim)
  • DiFraMut - Diagnostik in der Kooperativen Mutismustherapie
    Alexandra Kopf (Hannover)
  • Die Gruppe als Übergangsraum zur realen Lebenswelt – Gruppentherapie mit selektiv mutistischen oder sprechängstlichen Jugendlichen
    Kerstin Bahrfeck-Wichtill und Johanna Höfener (Dortmund)
  • "Wie mach ́ ich es richtig“ – Elemente zur Gestaltung pädagogischer Handlungsfelder von Kindern und Jugendlichen mit selektivem Mutismus
    Birgit Jung und Maik Herrmann (Meisenheim)
  • Selektiver Mutismus und kommunikatives Handeln in der Schule
    Daniela Feldmann (Oldenburg)
  • Alltag in der Therapie - Therapie im Alltag
    Optionen eines erweiterten therapeutischen Settings

    Anne Övermeyer, Isabel Grüner und Susan Kortjohann (Bissendorf/Osnabrück)

Das Interdisziplinäre Mutismus Forum (IMF) versteht sich als eine informelle Kooperationsplattform für Fachleute diverser Professionen aus folgenden institutionellen bzw. interessensgemeinschaftlichen Kontexten:


  • StillLeben Hannover e.V.

  • Sprachtherapeutisches Ambulatorium der TU Dortmund

  • Sprachheilzentrum des Gesundheitszentrums Glantal

  • Sprachheilzentrum Werscherberg
    Bissendorf/Osnabrück

  • Universitätsmedizin Mainz
    Hals-, Nasen-, Ohrenklinik und Poliklinik
    Schwerpunkt Kommunikationsstörungen