IMF-Leitlinien für die Mutismustherapie bei Kindern und Jugendlichen
Verständnis von selektivem Mutismus
Selektiver Mutismus wird als eine Strategie zur Regulation der
zwischenmenschlichen Kommunikation verstanden. Das Schweigen ist
Ausdruck eines - subjektiv sinnvollen - Umgangs mit Konflikten,
Ängsten oder Belastungen, für die aktuell keine wirksameren
Handlungsalternativen zur Verfügung stehen.
Bedingungshintergründe des
Schweigens
Bei der Entstehung und Aufrechterhaltung des Schweigens spielen
entwicklungsbedingte, lebensgeschichtliche und/oder systemische
Faktoren (z.B. familiäre oder schulische Situation) eine Rolle.
Ausgangsposition: Positive
Unterstellung
Es wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass Kinder/Jugendliche mit
selektivem Mutismus – wie alle Menschen – sprechen und mit anderen
erfolgreich kommunizieren möchten, da dies ein soziales Grundbedürfnis
ist.
Möglichst frühe therapeutische
Maßnahmen
Je länger das Schweigen besteht, desto fester ist es in der Identität
des Kindes/Jugendlichen verankert. Interventionen im Kindergartenalter
sind besonders Erfolg versprechend und wirken präventiv Langzeitfolgen
wie zum Beispiel Depressionen und generalisierten Angststörungen
entgegen.
Interaktions- und
Kommunikationskompetenz als Basis für das Sprechen
Nonverbale Kommunikationswege bilden die Basis für das Sprechen und
sind damit impliziter Bestandteil einer Mutismustherapie. Sie stehen
zu Beginn einer Therapie im Fokus, damit die Kinder/Jugendlichen
grundlegende kommunikative Prozesse erweitern und festigen. Darauf
kann Verbalität aufgebaut werden.
Druck nehmen und entlasten
In der Anfangsphase der Therapie wird zunächst der Druck zu sprechen
genommen. Der jeweilige Ist-Zustand wird akzeptiert. Die
Kinder/Jugendlichen werden darin unterstützt, die eigenen Bedürfnisse
wahrzunehmen, um darüber dem späteren Sprechen den Weg zu bahnen.
Therapeutische Vorgehensweisen
Bei Vorschulkindern wird das Schweigen nicht zwingend thematisiert und
ihnen bewusst gemacht. Vielmehr kommen kleine Kinder oftmals intuitiv
im gemeinsamen Spiel über gezielte therapeutische Beziehungs- und
Entwicklungsangebote ins Sprechen. Spätestens ab dem Schulalter wird
das Schweigen immer mit den Kindern/Jugendlichen thematisiert. Über
ein methodenintegrierendes therapeutisches Vorgehen wird mit ihnen ein
systematischer Aufbau des Sprechens angestrebt.
Mitbestimmung
Wege und Ziele der Therapie werden gemeinsam mit den
Kindern/Jugendlichen abgestimmt und ausgehandelt. Der/die TherapeutIn
ist ExpertIn für Ideen und Vorschläge auf dem Weg zum Sprechen; das
schweigende Kind/der schweigende Jugendliche ist wiederum Experte für
sich und kann nur selbst entscheiden, welche Schritte es/er in welchem
Tempo gehen will.
Identitätsbildung
Selektiver Mutismus beeinflusst auch immer die Identitätsentwicklung.
Im Rahmen der Therapie soll sich das Kind/der Jugendliche von seiner
vom Schweigen bestimmten Identität hin zu einer kommunikativ
kompetenten Person entwickeln. Ziel ist ein selbstbestimmtes und
situationsangemessenes Sprechen.
Respekt vor dem Entwicklungstempo
Jedes Schweigen hat seine individuelle Entwicklungsgeschichte und
jeder Therapieprozess ebenso. Der Weg zum Sprechen braucht Zeit und
kann auch von Innehalten und Umwegen bestimmt sein.
Interdisziplinäre
Zusammenarbeit
Ergänzende (medizinische, psychologische) Fachdiagnosen können
notwendig sein, um den selektiven Mutismus von anderen Störungen
abzugrenzen oder Komorbiditäten aufzudecken sowie entsprechende
therapeutische Maßnahmen einzuleiten. Eine Beteiligung verschiedener
Fachdisziplinen am Therapieprozess erfordert ein aufeinander
abgestimmtes Vorgehen.
Kooperation mit Eltern
Selektiver Mutismus zeigt sich im Spannungsfeld zwischen dem System
der Familie und dem Außenkontext. Die Eltern werden
ressourcenorientiert und kooperativ am Therapieprozess beteiligt.
Einbezug aller Kontexte und Systeme
Der Einbezug aller Fachpersonen (ErzieherInnen, Lehrkräfte, weitere
TherapeutInnen) ist wichtige Grundlage jeder Mutismustherapie. Anfangs
wird ein gemeinsames Verständnis des Schweigens hergestellt, um auf
dieser Basis die Rollen einzelner Personen im Therapieprozess zu
vereinbaren. Eine Vernetzung mit der Schule impliziert das gemeinsame
Abwägen eines etwaigen Nachteilsausgleichs.
Qualifikation von TherapeutInnen
Fachpersonen unterschiedlicher Disziplinen können für eine spezifische
Therapie des selektiven Mutismus zuständig sein (v. a. Kinder- und
JugendlichenpsychotherapeutInnen, SprachtherapeutInnen, LogopädInnen,
HeilpädagogInnen). Entscheidend für die Qualität des therapeutischen
Angebotes sind eine Spezialisierung auf das Störungsbild sowie eine
supervisorische Begleitung der Fachperson.