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IMF-Leitlinien für die Mutismustherapie bei Kindern und Jugendlichen

  1. Verständnis von selektivem Mutismus

    Selektiver Mutismus wird als eine Strategie zur Regulation der zwischenmenschlichen Kommunikation verstanden. Das Schweigen ist Ausdruck eines - subjektiv sinnvollen - Umgangs mit Konflikten, Ängsten oder Belastungen, für die aktuell keine wirksameren Handlungsalternativen zur Verfügung stehen.
  2. Bedingungshintergründe des Schweigens

    Bei der Entstehung und Aufrechterhaltung des Schweigens spielen entwicklungsbedingte, lebensgeschichtliche und/oder systemische Faktoren (z.B. familiäre oder schulische Situation) eine Rolle.
  3. Ausgangsposition: Positive Unterstellung

    Es wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass Kinder/Jugendliche mit selektivem Mutismus – wie alle Menschen – sprechen und mit anderen erfolgreich kommunizieren möchten, da dies ein soziales Grundbedürfnis ist. 
  4. Möglichst frühe therapeutische Maßnahmen

    Je länger das Schweigen besteht, desto fester ist es in der Identität des Kindes/Jugendlichen verankert. Interventionen im Kindergartenalter sind besonders Erfolg versprechend und wirken präventiv Langzeitfolgen wie zum Beispiel Depressionen und generalisierten Angststörungen entgegen.
  5. Interaktions- und Kommunikationskompetenz als Basis für das Sprechen

    Nonverbale Kommunikationswege bilden die Basis für das Sprechen und sind damit impliziter Bestandteil einer Mutismustherapie. Sie stehen zu Beginn einer Therapie im Fokus, damit die Kinder/Jugendlichen grundlegende kommunikative Prozesse erweitern und festigen. Darauf kann Verbalität aufgebaut werden.
  6. Druck nehmen und entlasten

    In der Anfangsphase der Therapie wird zunächst der Druck zu sprechen genommen. Der jeweilige Ist-Zustand wird akzeptiert. Die Kinder/Jugendlichen werden darin unterstützt, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, um darüber dem späteren Sprechen den Weg zu bahnen.
  7. Therapeutische Vorgehensweisen

    Bei Vorschulkindern wird das Schweigen nicht zwingend thematisiert und ihnen bewusst gemacht. Vielmehr kommen kleine Kinder oftmals intuitiv im gemeinsamen Spiel über gezielte therapeutische Beziehungs- und Entwicklungsangebote ins Sprechen. Spätestens ab dem Schulalter wird das Schweigen immer mit den Kindern/Jugendlichen thematisiert. Über ein methodenintegrierendes therapeutisches Vorgehen wird mit ihnen ein systematischer Aufbau des Sprechens angestrebt.
  8. Mitbestimmung

    Wege und Ziele der Therapie werden gemeinsam mit den Kindern/Jugendlichen abgestimmt und ausgehandelt. Der/die TherapeutIn ist ExpertIn für Ideen und Vorschläge auf dem Weg zum Sprechen; das schweigende Kind/der schweigende Jugendliche ist wiederum Experte für sich und kann nur selbst entscheiden, welche Schritte es/er in welchem Tempo gehen will.
  9. Identitätsbildung

    Selektiver Mutismus beeinflusst auch immer die Identitätsentwicklung. Im Rahmen der Therapie soll sich das Kind/der Jugendliche von seiner vom Schweigen bestimmten Identität hin zu einer kommunikativ kompetenten Person entwickeln. Ziel ist ein selbstbestimmtes und situationsangemessenes Sprechen.
  10. Respekt vor dem Entwicklungstempo

    Jedes Schweigen hat seine individuelle Entwicklungsgeschichte und jeder Therapieprozess ebenso. Der Weg zum Sprechen braucht Zeit und kann auch von Innehalten und Umwegen bestimmt sein.
  11. Interdisziplinäre Zusammenarbeit 

    Ergänzende (medizinische, psychologische) Fachdiagnosen können notwendig sein, um den selektiven Mutismus von anderen Störungen abzugrenzen oder Komorbiditäten aufzudecken sowie entsprechende therapeutische Maßnahmen einzuleiten. Eine Beteiligung verschiedener Fachdisziplinen am Therapieprozess erfordert ein aufeinander abgestimmtes Vorgehen.
  12. Kooperation mit Eltern 

    Selektiver Mutismus zeigt sich im Spannungsfeld zwischen dem System der Familie und dem Außenkontext. Die Eltern werden ressourcenorientiert und kooperativ am Therapieprozess beteiligt.
  13. Einbezug aller Kontexte und Systeme

    Der Einbezug aller Fachpersonen (ErzieherInnen, Lehrkräfte, weitere TherapeutInnen) ist wichtige Grundlage jeder Mutismustherapie. Anfangs wird ein gemeinsames Verständnis des Schweigens hergestellt, um auf dieser Basis die Rollen einzelner Personen im Therapieprozess zu vereinbaren. Eine Vernetzung mit der Schule impliziert das gemeinsame Abwägen eines etwaigen Nachteilsausgleichs. 
  14. Qualifikation von TherapeutInnen

    Fachpersonen unterschiedlicher Disziplinen können für eine spezifische Therapie des selektiven Mutismus zuständig sein (v. a. Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen, SprachtherapeutInnen, LogopädInnen, HeilpädagogInnen). Entscheidend für die Qualität des therapeutischen Angebotes sind eine Spezialisierung auf das Störungsbild sowie eine supervisorische Begleitung der Fachperson.